ATN. Aktuelles.

Das Ende der Gerichtsverhandlung per Videokonferenz?

7. Februar 2024

Eine Entscheidung des Bundesfinanzhofes könnte die „Digitalisierung“ von Gerichtsverhandlungen ausbremsen….

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Beschluss vom 30.06.2023 (Az. V B 13/22) klargestellt, dass für die Beteiligten an einer Videokonferenz im Rahmen einer Gerichtsverhandlung durchgehend feststellbar sein muss, ob die Richter in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Das erfordert, dass nicht nur alle Verfahrensbeteiligten bzw. ihre Bevollmächtigten, sondern auch alle zur Entscheidung berufenen Richter während der Videokonferenz für die zugeschalteten Beteiligten sichtbar sind. Damit hat der BFH seine Anforderungen an eine Videoverhandlung weiter konkretisiert. Bei vielen Gerichten dürften diese Voraussetzungen aus technischen Gründen nicht erfüllt sein.

Hintergrund

Hintergrund der Entscheidung war ein Verfahren beim Finanzgericht Münster. Dort gestattet das Gericht den Beteiligten des Verfahrens per Beschluss, sich während der mündlichen Verhandlung in den eigenen Räumlichkeiten aufzuhalten und dort per Videokonferenz an der Verhandlung teilzunehmen. Mit einer Beschwerde gegen die im Urteil des Finanzgerichts Münster ausgesprochene Nichtzulassung der Revision hatte der Kläger vorgetragen, dass während der neunzigminütigen Verhandlung lediglich der Vorsitzende Richter des Senats, der das Wort geführt hatte, etwa 2/3 der Zeit alleine im Bild gewesen sei und er das Verhalten der übrigen Richter nicht habe verfolgen konnte. Das BFH hob das Urteil des Finanzgerichts dagegen auf und verwies den Rechtsstreit zurück. Zur Begründung verwies er darauf, dass der Anspruch des Klägers auf die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts nach § 119 Nr. 1 FGO i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt worden sei. Eine vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts liege nur vor, wenn jeder an der Verhandlung und Entscheidung beteiligte Richter die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrnehmen und „in sich“ aufnehmen könne. Nur dann sei ein Richter in der Lage, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung zu gewinnen. Die Anwendung der fortschrittlicheren Videokonferenz dürfe laut BFH nicht zu einem Verlust an rechtsstaatlicher Qualität führen. Es müsse jederzeit feststellbar sein, ob alle Richter körperlich und geistig anwesend sind und der Verhandlung folgen. Bei der Videokonferenz müssten verbale und nonverbale Äußerungen wahrnehmbar sein. Nur die im Gerichtssaal anwesenden Zuschauer müssten nicht zu sehen sein.

Bei einem Verstoß gegen die durchgängige visuelle Anwesenheit aller Richter liege ein Verfahrensmangel nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor, der einen absoluten Revisionsgrund darstelle und der Disposition der Parteien entzogen sei.

Videokonferenzen

Grundsätzlich besteht die Möglichkeit der Teilnahme an Gerichtsverhandlungen nicht erst seit der Corona-Pandemie, sondern seit mehr als 20 Jahren. § 128a ZPO regelt dies für sämtliche Verhandlungen im Anwendungsbereich der ZPO. Andere Verfahrensordnungen haben entsprechende Regelungen oder Verweise auf diese Vorschrift.

Die mündliche Verhandlung kann daher außerhalb des Sitzungssaales von den Parteien bzw. ihren Bevollmächtigten wahrgenommen werden. Das Gericht kann eine Videokonferenz inzwischen nicht nur auf Antrag einer Partei, sondern auch von Amts wegen anordnen, wenn es dies für angemessen hält.

Voraussetzung ist die Möglichkeit, die Verfahrenshandlungen der Parteien und das Gericht zeitgleich zu jedem Zeitpunkt der Verhandlung visuell und akustisch wahrzunehmen, da nur auf diese Weise eine herkömmliche, der mündlichen Verhandlung vergleichbare Verhandlungssituation entsteht.

Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung haben seit der Corona-Pandemie an Bedeutung gewonnen. Sie vermeiden Kosten und zeitintensive Reisetätigkeiten der Beteiligten, zudem schonen sie das Klima.

Verfahrensfehler

Während bislang bestehende Übertragungsdefizite meist als § 295 ZPO heilbare Verfahrensfehler eingeordnet wurden, entschied der BFH nun, dass die nicht durchgängige visuelle Übertragung aller Richter als absoluter Revisionsgrund anzusehen sei. Die Entscheidung betrifft alle Gerichtszweige, also z.B. auch die Arbeitsgerichtsbarkeit. Ein Abweichen wäre nur bei einer Vorlage vor den gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes denkbar.

Fazit

Die Entscheidung könnte die Digitalisierung in deutschen Gerichtssälen ausbremsen. Sie ist vollständig auf die Vorschriften für die Zivil- Verwaltungs-, Sozial- und Arbeitsgerichte übertragbar und hat damit erhebliche Auswirkungen auf die den Richtern obliegende Entscheidung, ob dem Antrag auf Durchführung einer Videokonferenz stattgegeben wird. Sie steht auch im Widerspruch zu dem Regierungsentwurf eines Gesetzes zur „Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten“.

Der Beschluss des BFH zeigt, dass – soweit das Gericht die Entscheidung nicht auf einen Einzelrichter übertragen hat – bei der Übertragung gewährleistet sein muss, dass alle berufenen Richter parallel in der Videokonferenz sichtbar sein müssen, ohne, dass dies als rein schemenhafte Kontur ohne erkennbare Gestik und Mimik erfolgt, oder, dass lediglich der das Wort innehabende Richter zu sehen ist.

Dem Beschluss ist außerdem zu entnehmen, dass es die Kameraeinstellung ermöglichen muss, neben allen Richtern auch die Parteien bzw. ihre Rechtsbeistände durchgängig visuell sehen zu können. Die Übertragung nur einzelner Personen aus diesem Personenkreis genügt nicht und dürfte dann wohl ebenfalls einen Revisionsgrund darstellen.

Der Beschluss des BFH zwingt die Gerichte zur Verwendung mehrerer Kameras, u.U. sogar mit Zoom- und Schwenkfunktion. Die Videokonferenz muss so eingerichtet sein, dass die komplette Kammer und die Parteien zeitgleich visuell und akustisch wahrzunehmen sind. Dafür dürfte es bei vielen Gerichtssälen an den technischen Voraussetzungen fehlen. Das Finanzgericht Düsseldorf ist daher dazu übergangen, alle Anträge auf Durchführung als Videokonferenz abzulehnen. Angeblich würde die technische Aufrüstung der Kamerasysteme zu Kosten im sechsstelligen Bereich führen.

Anwälten bietet die Entscheidung die u.U. willkommene Möglichkeit zur Revisionseinlegung – auch in Fällen mit überschaubar großen Erfolgsaussichten. Vor dem Hintergrund werden die Gerichte voraussichtlich immer restriktiver mit Anträgen auf Ansetzung von Videokonferenzen umgehen.

Durch den Verweis in der Begründung der Entscheidung des BFH auf das Grundgesetz dürfte eine Lösung des Gesetzgebers nicht zu erwarten sein. Angesichts leerer Staatskassen ist aber auch eine technische Lösung kurzfristig unwahrscheinlich. In Folge der Entscheidung dürften Gerichtsverhandlungen nun wieder vermehrt die Präsenz aller Beteiligter erfordern, was letztlich die einzige positive Folge der Coronapandemie entfallen lässt.

 

Für weitere Informationen und Neuigkeiten folgen Sie uns gerne bei LinkedIn!