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Aufrechnungslage trotz Begründung im Dreimonatszeitraum nicht zwingend inkongruent

26. April 2023

Die Herstellung einer Aufrechnungslage ist nicht allein deshalb inkongruent, weil die Aufrechnungsbefugnis in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden ist.

BGH, Urteil vom 8.12.2022 – IX ZR 175/21

RA Dr. d’Avoine kommentiert das BGH, Urteil vom 8.12.2022 – IX ZR 175/21 im Heft 6 der EWiR 2023, S. 179 f.

1. Sachverhalt

Der Kläger ist (Sonder-) Insolvenzverwalter über das Vermögen der P (=Schuldnerin). Die Schuldnerin erwarb von dem Beklagten als Insolvenzverwalter der „W“ deren Geschäftsbetrieb. Der Kaufpreis war urspr. am 19.02.2016 fällig. Am 23. Februar 2016 vereinbarten die Parteien, dass der Kaufpreis in Höhe von 1 Million Euro am 23. Februar und in Höhe der restlichen 5,7 Millionen Euro am 18. März 2016 fällig sein sollte; gezahlt wurde nur die erste Rate. Vom Unternehmenskauf ausgenommen war bei der W gelagerte Fertigware. Diese sollte (und wurde später ab dem 23.02.2016) von der Schuldnerin abverkauft. Als Gegenleistung war die Zahlung einer „Handling Fee“ von € 170.000,00 netto vereinbart. Auf den Antrag der Schuldnerin vom 15.03.2016 wurde das Insolvenzverfahren am 23.05.2016 eröffnet. Der Beklagte meldete den fehlenden Kaufpreis zur Insolvenztabelle an. Mit einer vom Kläger festgestellten Teilforderung von € 500.000,00 hat der Beklagte die Aufrechnung gegen die streitgegenständliche „Handling Fee“ erklärt. Der Kläger verlangt mit der Klage die Zahlung der „Handling Fee“. Das Landgericht hat die Klage aufgrund der Aufrechnung abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Aufrechnung für insolvenzrechtlich unwirksam gehalten und der Klage stattgegeben. Der Senat hebt das Berufungsurteil auf und verweist an das OLG zurück.

2. Ausführungen des BGH

Der BGH hält die Aufrechnung des Beklagten mit einem (erstrangigen) Teilbetrag der zur Tabelle festgestellten Kaufpreisforderung für die immateriellen Vermögensgegenstände in Höhe von 500.000 € für zulässig. Sie scheitere nicht an § 96 Abs. 1 Nr. 3, § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Es fehle an einer inkongruenten Sicherung oder Befriedigung. Eine die Aufrechnungsbefugnis begründende Verknüpfung zwischen Haupt- und Gegenforderung setzte nicht voraus, dass die Aufrechnung ausdrücklich vereinbart werde. Ausreichend sei eine vor der Herstellung der Aufrechnungslage vorgenommene Verknüpfung, welche die Annahme einer Aufrechnungsbefugnis nach dem zuerst entstandenen Rechtsverhältnis rechtfertigt. Würden in einem Vertrag wechselseitige Ansprüche begründet und ergebe sich aus den getroffenen Vereinbarungen nicht, dass eine Erfüllung durch Aufrechnung ausgeschlossen sein solle, bestehe die zur Annahme der Kongruenz notwendige Aufrechnungsbefugnis. Sowohl der streitgegenständliche Anspruch auf die „Handling Fee“ als auch die zur Aufrechnung gestellte Teilkaufpreisforderung aus dem geschlossenen Unternehmenskaufvertrag seien aus einem einheitlichen Vertragsverhältnis erwachsen. Dass die Aufrechnungsbefugnis in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden sei, führe nicht allein zu einer Inkongruenz der Herstellung einer Aufrechnungslage.

3. Analyse und praktische Konsequenzen:

Die Entscheidung schützt das Vertrauen der Vertragsparteien darin, sich grundsätzlich wegen der gegenseitigen Forderungen aus einem einheitlichen Vertrag durch Aufrechnung befriedigen zu können. Hier bestätigt der BGH seine Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit der Aufrechnung im Dreimonatszeitraum zugunsten einer grundsätzlich anzunehmenden Kongruenz. Die in der Literatur teilweise vertretene Ansicht, dies sei nur zulässig, wenn der Aufrechnende einen Anspruch gerade auf den Abschluss der Vereinbarung habe, welche die Aufrechnungslage entstehen ließ, (so: MüKoInsO/Kayser/Freudenberg, 4. Aufl. 2019, InsO § 131 Rn. 17), lehnt der Senat ab. Dies ist zutreffend, da die Aufrechnung ein Erfüllungssurogat i.S.d. § 364 Abs. 1 BGB darstellt. Die von §§ 94 ff. InsO vorgesehene Möglichkeit, durch Aufrechnung zu erfüllen, macht die Aufrechnung nicht inkongruent, nur weil diese Möglichkeit nicht vertraglich bestimmt wurde. Die Erlangung einer kongruenten Aufrechnungslage hängt nicht davon ab, ob der Aufrechnende einen Anspruch gerade auf den Abschluss der die Aufrechnungslage entstehenden Vereinbarung hat. Bei der Differenzierung zwischen vertragstreuer Kongruenz und vom Gläubiger nicht zu beanspruchender und damit inkongruenter Deckung ist die Verknüpfung zwischen den beiden Rechtsverhältnissen (dem aufrechnenden und dem aufgerechneten) ausschlaggebend. Entstehen Haupt- und Gegenforderung aus einem einheitlichen Vertragsverhältnis ist grundsätzlich von der Entstehung einer vertragstreuen -und damit unverdächtigen- Aufrechnungslage auszugehen

Die Aufrechnung in der kritischen Zeit der §§ 130, 131 InsO verstößt auch nicht gegen den Schutz der Gläubigergesamtheit. Zwar nutzt der Aufrechnende einen Vorteil, der den übrigen Gläubigern nicht zusteht und befreit sich (ggf. nur teilweise) von einer Forderung, doch bestimmt bereits § 94 InsO, dass eine zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehende Aufrechnungslage durch das Verfahren im Grundsatz nicht berührt wird (so auch BGH a.a.O. Ziffer 12). Der Gesetzeszweck der §§ 94 ff. InsO würde nicht beachtet, wenn bereits das Entstehen der Aufrechnungslage eine Inkongruenz begründen und damit im Monat 1 vor dem Insolvenzantrag ohne weitere Voraussetzungen der Anfechtung unterliegen würde (§ 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Das führt der BGH aus und schützt letztlich das Vertrauen der Vertragsparteien in Aufrechnungspotentiale.

Quelle:
Kommentar zu BGH, Urteil vom 8.12.2022 – IX ZR 175/21 im Heft 6 der EWiR 2023, S. 179 f.

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