Urlaubsabgeltung als (Neu-)Masseverbindlichkeit / Rechtsprechungsänderung des BAG

17. Januar 2022

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. November 2021 – 6 AZR 94/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. Oktober 2018 – 23 Sa 505/18

Mit Urteil vom 25.11.2021 (BAG, Urteil v. 25.11.2021 – Az. 6 AZR 94/19), stellt der u.a. für das Insolvenzrecht zuständige 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts fest, dass Urlaubsabgeltungsansprüche aus Arbeitsverhältnissen, die vor Insolvenzeröffnung durch den starken, vorläufigen Insolvenzverwalter beendete wurden, vollumfänglich als Masseverbindlichkeiten zu qualifizieren sind. Dies gelte jedenfalls dann, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter die Arbeitsleistung in Anspruch genommen und den Arbeitnehmer nicht freigestellt hat.

Das dürfte dem Rechtsempfinden aller Arbeitnehmer entsprechen. Interessant ist jedoch nicht die oben genannte Feststellung, sondern die mit dem Urteil verbundene Rechtsprechungsänderung des für das Urlaubsrecht zuständigen 9. Senats des BAG. Dieser hatte bei Inanspruchnahme von Arbeitsverhältnissen für Zeiten der Masseunzulänglichkeit noch anders entschieden (BAG, Urteil v. 21.11.2006 – 9 AZR 97/06). Ausstehender Urlaub in Anspruch genommener und beendeter Arbeitsverhältnisse in Zeiten der Masseunzulänglichkeit sollte ursprünglich nur ratierlich für den Zeitraum der Masseunzulänglichkeit als sog. Neumasseverbindlichkeiten abgegolten und damit in Zeiten vor und nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit aufgeteilt werden. Die Aufteilung soll bei Masseunzulänglichkeit zukünftig aufgegeben werden. Eine dahingehende Anfrage des 6. Senats des BAG an den 9. war geboten, da die oben genannte Rechtsprechung vom 25.11.2021 zu Wertungswidersprüchen führt, die mit der bisherigen Linie des BAG nicht in Einklang zu bringen war (BAG (6. Senat), Teilurteil vom 10.09.2020 – 6 AZR 94/19 (A)).

Jedoch der Reihe nach.

Im zu entscheidenden Fall war der Kläger seit 2003 bei der Insolvenzschuldnerin bzw. deren Rechtsvorgängerin als Montageleiter beschäftigt. Nachdem die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin beantragt worden war, wurde die Beklagte mit Beschluss des Insolvenzgerichts vom 16.08.2017 gem. § 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO zunächst als sog. schwache Insolvenzverwalterin eingesetzt und sodann mit Beschluss vom 06.09.2017 als starke vorläufige Insolvenzverwalterin mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen der Schuldnerin bestellt, § 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO. Das Arbeitsverhältnis des Klägers und die Erbringung seiner Arbeitsleistung endeten unstreitig mit dem 29.09.2017. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nebst Bestellung der Beklagten zur endgültigen Insolvenzverwalterin erfolgten mit dem 01.11.2017. Zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses – und damit vor Insolvenzeröffnung – standen dem Kläger 20 Tage offener Urlaub zu, die der Kläger mit der verfolgten Klage als Urlaubsabgeltung gegen die Masse nach § 7 Abs. 4 BUrlG beanspruchte.

Die Urteilsbegründung steht noch aus. Ausweislich der Anfrage des 6. an den 9. Senat mit Teilurteil vom 10.09.2020 (aaO), ergebe sich dies jedoch aus § 55 Abs. 2 S. 2 InsO. Der Abgeltungsanspruch sei im vorbenannten Fall eine Masseverbindlichkeit die vollumfänglich von der Beklagten auszugleichen sei und nicht nur eine zur Tabelle anzumeldende Insolvenzforderung nach §§ 174 ff. InsO. Grundsätzlich könnten von der Insolvenz ihres Arbeitgebers betroffene Arbeitnehmer ihre Entgeltansprüche für Zeiten vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nur als Insolvenzgläubiger geltend machen, §§ 38, 108 Abs. 3 InsO. Um Insolvenzforderungen handle es sich bei allen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Forderungen, wobei der Zeitpunkt ihrer Entstehung sowie deren Fälligkeit für die Einordnung als Insolvenz- oder Masseforderung unmaßgeblich seien. Entscheidend sei, dass ihr Rechtsgrund zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung bereits angelegt bzw. der den Anspruch begründende Tatbestand bereits vor der Insolvenzeröffnung vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen war. Das wäre bei der hier abzugeltenden Insolvenzforderung eigentlich der Fall.

Der Abgeltungsanspruch stehe als Verbindlichkeit aus einem Dauerschuldverhältnis jedoch im Rang einer Masseverbindlichkeit, „soweit“ der vorläufige starke Insolvenzverwalter, auf den die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen der Schuldnerin nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 iVm. § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO übergegangen ist, die Gegenleistung in Anspruch genommen hat. Dies ergebe sich aus § 55 Abs. 2 S. 2 iVm. Abs. 2 S. 1 InsO. Das Wort „soweit“ beziehe sich dabei nicht auf Ansprüche des Arbeitnehmers, die unmittelbar auf einer tatsächlichen Arbeitsleistung beruhen. Das Wort sei dahingehend zu verstehen, dass nicht jeder Anspruch aus einem Dauerschuldverhältnis eine Masseverbindlichkeit darstelle, sondern dass dies nur für den Fall gelte, indem der starke vorläufige Insolvenzverwalter die Arbeitsleistung als Hauptpflicht des Arbeitnehmers als solche in Anspruch nimmt. Der Begriff grenze nur die Entscheidung des Insolvenzverwalters zur Inanspruchnahme des Arbeitnehmers von der zu dessen Freistellung ab, so dass über die Fiktion des § 55 Abs. 2 S. 2 InsO alle Ansprüche des zur Arbeitsleistung herangezogenen Arbeitnehmers so behandelt werden, als ob der starke vorläufige Verwalter das Arbeitsverhältnis selbst durch Neuabschluss begründet hätte. Mit dieser Entscheidung – Freistellung oder Inanspruchnahme des Arbeitnehmers – stehe nach der Konzeption der Insolvenzordnung zugleich fest, dass im Gegenzug alle Verpflichtungen aus dem nach § 108 Abs. 1 S. 1 InsO fortbestehendem Arbeitsverhältnis vom späteren Insolvenzverwalter nach Verfahrenseröffnung zu erfüllen sind. Dies gelte unabhängig davon, ob die Verpflichtungen gesetzlich, tariflich oder vertraglich begründet wurden und ob sie auf eine tatsächliche, konkrete Arbeitsleistung zurückzuführen sind. Es handle sich um ein „Gesamtpaket“ im Sinne eines Pflichtenbündels. Die Insolvenzordnung sehe diesbezüglich keine Einschränkungen der Arbeitgeberpflichten zugunsten der Masse vor, weswegen bei der Vergütung der Arbeitsleistung auch entgeltfortzahlungspflichtige „unproduktive“ Ausfallzeiten zu berücksichtigen seien. Dies gelte ebenso für den Anspruch auf Urlaubsabgeltung nach § 7 Abs. 4 BUrlG, auch wenn dieser nicht durch eine hierauf bezogene Arbeitsleistung verdient werden muss, weil er nur an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses knüpft. Ohne einen adäquaten Schutz ihrer Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis würden Arbeitnehmer oftmals die Eigenkündigung einer Fortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses vorziehen, mit der Folge dass die von der Insolvenzordnung angestrebte Fortführung des Unternehmens unmöglich würde. „Unproduktive“ Ausfallzeiten im Rahmen der Urlaubsgewährung und die daraus resultierende Urlaubsgeltung sind daher von der Masse zu tragen auch wenn ihr kein unmittelbarer Gegenwert zufließe.

Das hatte der 9. Senat mit Urteil vom 21.11.2006 (aaO) für Zeiten der Masseunzulänglichkeit in der gleichlautende Vorschrift des § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO (MUZ) zu § 55 Abs. 2 S. 2 InsO (vorl. IV) noch anders gesehen.

Bei Anzeige der Masseunzulänglichkeit nach Insolvenzeröffnung gem. § 208 InsO bestimme sich die Befriedigung der Massegläubiger nach der in § 209 InsO geregelten Rangfolge. Die Masse diene nunmehr vorrangig der Befriedigung der vom Insolvenzverwalter neu eingegangen Verbindlichkeiten, um ihm so den Handlungsspielraum zu geben, den er benötigt, um die Verwertung auch bei Masseunzulänglichkeit zum Abschuss zu bringen. Daher habe sich der Gesetzgeber zu einer Neuordnung der insolvenzrechtlichen Rangfolge der Masseverbindlichkeiten durch Einführung einer in Alt- und Neumasseverbindlichkeiten „gespaltenen“ Rangfolge entschieden, für Zeiten vor und nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit. Gem. § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO gelten als Neumasseverbindlichkeiten iSd. § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO die Verbindlichkeiten aus einem Dauerschuldverhältnis, „soweit“ der Insolvenzverwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit für die Insolvenzmasse die Gegenleistung in Anspruch genommen hat. Die Vorschrift entspricht damit der des § 55 Abs. 2 S. 2 InsO bei vorläufiger Insolvenzverwaltung. Bezogen auf Arbeitsverhältnisse nehme der Insolvenzverwalter die Gegenleistung in Anspruch, wenn der Insolvenzverwalter den Arbeitnehmer zur Arbeit heranzieht. Die Einordnung von Vergütungsansprüchen als Neumasseverbindlichkeiten rechtfertige sich regelmäßig nur, wenn der Arbeitnehmer durch tatsächliche Arbeitsleistung zur Anreicherung der Masse beitrage. Das sei bezogen auf Urlaubsansprüche nicht der Fall, weswegen die Urlaubsabgeltung nicht in voller Höhe als Neumasseverbindlichkeit berichtigt werden könne. Eine völlige Vernachlässigung der tatsächlichen Arbeitsleistung für sog. geldwerte Urlaubsansprüche auf Urlaubsentgelt und Urlaubsabgeltung sei mit dem Wortlaut des § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO jedoch nicht vereinbar. Maßgeblich sei das Verhältnis der möglichen Arbeitstage im Jahr zu den vom Arbeitnehmer nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit geleisteten Arbeitstage, die abgegolten werden könnten (Zum Ganzen: BAG (6. Senat), Teilurteil vom 10.09.2020 – 6 AZR 94/19 (A)). Eine vollumfängliche Abgeltung finde allerdings nicht statt, da eine Anreicherung der Masse für Zeiten des Bestehens des Arbeitsverhältnisses und der damit verbundenen Urlaubsansprüche nicht ersichtlich sei.

Die Vorschriften des § 55 Abs. 2 S. 2 iVm. Abs. 2 S. 1 sowie § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO sind folglich identisch, weswegen die bislang zur Masseunzulänglichkeit ergangene Rechtsprechung auf Zeiten der Inanspruchnahme der Arbeitsleistung des vorläufigen starken Insolvenzverwalters übertragen wäre. Die Identität des Wortlauts bedingt ein gleiches Verständnis der Tatbestandsvoraussetzungen. Da die Insolvenzordnung jedoch keine Trennung des arbeitsvertraglichen Synallagmas in Gegenleistungen des Arbeitgebers für produktive und nicht produktive Zeiten des Arbeitnehmers kenne und die Sanierung insolventer Unternehmen auf Grund potentieller Eigenkündigungen von Arbeitnehmern nur unter Schwierigkeiten gelingen kann, war eine Anfrage des 6. an den 9. Senats notwendig. Dieser erklärte mit Beschluss vom 16.02.2021 (BAG, Beschluss v. 16.02.2021 – 9 AS 1/21), dass er an seiner bisherigen Rechtsprechung nicht mehr festhalte.

Die genaue Urteilsbegründung bleibt noch abzuwarten. Die Pressemitteilung finden Sie hier:

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Urlaubs- und daraus hervorgehende Abgeltungsansprüche sind zukünftig vollumfänglich von der Masse zu tragen, ganz gleich ob sie auf Zeiten der vorläufigen, starken Insolvenzverwaltung oder auf Zeiten vor Anzeige der Masseunzulänglichkeit beruhen, soweit der Verwalter den Arbeitnehmer in Anspruch genommen und eben nicht freigestellt hat. Vorläufige starke Insolvenzverwalter und Verwalter bei angezeigter Masseunzulänglichkeit sollten daher gut überlegen, ob sie eine Weiterbeschäftigung für und gegen die Masse wählen, oder ob der noch abzugeltende Urlaubsanspruch die Vorteile der Masse aus der Weiterbeschäftigung überwiegen. Das kann je nach Arbeitsverhältnis und Auftragsbestand nicht immer der Fall sein.

Rechtsanwalt Karl Neumann, LL.M. – Praxisgruppe Arbeitsrecht, ATN Rechtsanwälte